Rudolf Steiners Beziehung zu Misraim
Rudolf Steiner war schon in seiner Wiener Studentenzeit mit Friedrich Eckstein vertraut, der Ende Januar 1887 von Blavatzky den Auftrag erhalten hatte, in Wien eine Theosophische Loge einzurichten. Da sie ihm ein goldenes Rosenkreuz umgehängt hat, wird sie ihm auch einen hohen Grad in der Misraim-Maurerei verliehen haben, der ihn berechtigte, in Wien eine entsprechende Loge zu halten. H.P. Blavatsky besaß seit 1877 die höchsten Grade, die einer Frau zuteil werden konnte.
Wie Jules Sauerwein berichtet hat, arbeitete Eckstein nach der Jahrhundertwende mit Übungen und wohl auch Ritualen von Kerning und schickte Sauerwein zu Rudolf Steiner, der es in diesen Übungen besonders weit gebracht hätte. Kernings und Ecksteins Umgang mit den Wortgeheimnissen zeigt ihre Nähe zum Misraim-Strom. Da die Freimaurerei in diesen Jahren in Österreich verboten war, sind äußere Zeugnisse für alle Logen nur spärlich vorhanden.
Rudolf Steiner schrieb damals, dass Eckstein besser als er selbst wisse, was er für Steiner bedeute. Eckstein schrieb seinerseits in seinen Memoiren, dass er Rudolf Steiner eingeweiht habe. Auch der Erbgraf von Leiningen-Billigheim (2. Sekretär der Theosophischen Gesellschaft in Wien) war ein Schüler Kernings.
1904 übernahm Rudolf Steiner die deutsche Abteilung der Esoterischen Schule (ES), die Blavatsky für die theosophische Welt eingerichtet und als Vorstufe zur kultischen Arbeit in ihrer Freimaurerei (Memphis-Misraim schottisch) ausgestaltet hatte. Annie Besant hat dann nach Blavatskys Tod die Inhalte der ES – ohne diese so zu benennen – im dritten Band der Geheimlehre veröffentlicht.
Deswegen musste Rudolf Steiner als verantwortlicher Archdeacon im deutschsprachigen Bereich der esoterischen Schule neue Inhalte geben. Für die dazugehörige kultische Arbeit in den an die ES anschließenden FM-Graden fehlten ihm die Rechte – mindestens in Deutschland. Was im Hintergrund alles geschah, ist nicht in allen Einzelheiten erhalten. Doch gleichzeitig gab John Yarker den für Rudolf Steiner okkult sehr wichtigen Strom der Vereinigten drei Riten an Theodor Reuss weiter. So war Rudolf Steiner angewiesen darauf, mit Theodor Reuss zu verhandeln, um die okkulte Arbeit 1906 aufnehmen zu können. Reuss versprach, ihm nach den ersten hundert eingetretenen Mitgliedern das Großmeisteramt für den Schottischen, Memphis- und Miraim-Ritus zu übertragen. Scheinbar rechnete Reuss nicht mit einer so schnellen Verwirklichung und als es Mitte 1907 soweit war, brach er den Vertrag. Er hatte am 10.9.1906 die drei Riten getrennt, behielt einen für sich und gab Rudolf Steiner nur die Berechtigung für Misraim weiter. Interessant ist, dass in der Urkunde, in der Rudolf Steiner zum Großmeister (90°) eingesetzt wird, erwähnt ist, dass Rudolf Steiner auch den höchsten Grad des Schottischen Ritus (33°) und den höchsten Grad des Memphis-Ritus (96°) innehatte. Dadurch wird deutlich, dass die Vermutung einiger Autoren, Rudolf Steiner habe die Maurerei nur von Reuss gekauft, nicht stimmen kann, denn er kann diesen hohen Grad von Memphis nicht gleichzeitig mit der Einschränkung auf Misraim von Reuss erhalten haben. Er muß ihn also schon vorher aus einer anderen Quelle erhalten haben. Er verhandelte mit Reuss nur wegen der Kontinuität, nicht wegen der Grade! Auch existiert eine Urkunde in Paris, die Rudolf Steiners Unterschrift trägt mit den Graden 30–67–89, die noch aus dem 19. Jhdt. stammt und in Freimaurerkreisen in Paris verwahrt wird. In diesem 'Dreierpack' bedeutet die erste Zahl die Grade im Schottischen Ritus, die zweite in Misraim und die dritte in Memphis.
Am 15.6.1907 wurde Rudolf Steiner also zum Großmeister des Misraim-Ritus (90°).
Interessant ist, dass Annie Besant, die den rosenkreuzerischen Strom nicht zulassen wollte, ein paar Monate zuvor Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft (Adyar) wurde.
1911 gründete Annie Besant einen eigenen Orden, den des "Star of the East“, wo sie Krishnamurti zum Weltenlehrer ausrief. Kurz danach, am 15.12.1911 antwortete Rudolf Steiner, indem er zu der Stiftung "Gesellschaft für Theosophische Art und Kunst" aufrief, deren Aufbau okkulte Formen aufweist und deren vorgesehene Mitglieder den Anschluss zu dem Stifter Christian Rosenkreutz suchen sollten.